Urs Greutmann, Carmen Greutmann-Bolzern

Von der Faszination, über Stühle jeden Tag neu nachzudenken

Im Gespräch mit Carmen Greutmann-Bolzern und Urs Greutmann

Carmen und Urs Greutmann-Bolzern gründeten 1984 das greutmann bolzern designstudio in Zürich. Heute zählt es zu den profiliertesten Studios der Schweiz. Die Arbeitsgemeinschaft reicht bis ins gemeinsame Studium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich zurück. Carmen Greutmann-Bolzern schloss als Innenarchitektin ab, Urs Greutmann als Industriedesigner. Das wichtigste Tätigkeitsfeld des Designbüros, welches die Beiden gleich nach dem Studium gründeten, ist die Welt des Büros. Seit 2003 teilen sie sich eine Professur für Produktgestaltung an der Akademie der Bildenden Künste in München.

Sie betreiben seit 1984 ein gemeinsames Atelier, ein Designstudio für die Gestaltung von Innenräumen und Produkten. Wie sind Sie gestartet?

Carmen Greutmann-Bolzern:
Unser erster Erfolg nach Abschluss des Studiums war matchentscheidend für den weiteren Weg. Wir gewannen damals einen Studentenwettbewerb, der von der Schweizer Firma Denz ausgelobt war und hatten das Glück, dass der Entwurf sehr gute Resonanz hatte und daher realisiert wurde. Dies war ungewöhnlich, aber die Idee schlug ein und es war unser Einstieg in die Bürowelt. Daraus entstanden viele Folgeaufträge sowohl im Produkt- als auch Grafikdesign, später in der Showroomgestaltung und wir haben sogar das Privathaus von Albert Denz gebaut. Als Denz von Lista Office LO (heute Lienhard Office Group) übernommen wurde, blieb unsere Zusammenarbeit bestehen. Mit den spezifischen Herausforderungen an Schweizer Design, denen wir uns bei den Aufgaben stellten, wurde auch ein Stück weit unsere Herangehensweise geprägt, zumindest, wenn ich für mich spreche.

 

Gibt es eine grundsätzliche, besonders bewährte Herangehensweise an Ihre Gestaltungsaufgaben?

Urs Greutmann:
Wir versuchen immer aus dem Kontext heraus zu entwickeln – das ist das A und O. Da wir in der Regel auftragsbezogen arbeiten, steht am Anfang die Analyse. Voraussetzung für die Lösung ist, zu verstehen, für welche Firma wir arbeiten, wie die Firma arbeitet und was sie letztendlich umsetzen kann. Wir wollen Dinge gerne verändern und dies ist nur möglich, wenn über Jahre hinweg eine kontinuierliche Zusammenarbeit besteht.

 

Wie begann Ihre Zusammenarbeit mit Girsberger?

Carmen Greutmann-Bolzern:
Die Fäden sind auf verschiedene Weise zusammengelaufen. Erstmals sind wir im Rahmen des Projektes für Credit Suisse mit 2400 Arbeitsplätzen auf Girsberger gestossen. Später kamen wir beim Projekt Swiss Lounge für den Zürcher Flughafen zusammen, im Rahmen dessen wir auch erstmals mit Girsberger Customized Furniture kooperierten. Vor etwa vier Jahren hatten wir dann die Idee für einen neuen Stuhl. Denn, auch wenn wir meist auftragsbezogen arbeiten, widmet sich Urs immer wieder freien Entwürfen.

Urs Greutmann:
So kamen wir mit Girsberger auch auf der Ebene der Entwicklung von Serienprodukten ins Gespräch. Die Zeit war gerade reif für unsere Idee. Mein erster Gedanke war es, einen ganz einfachen Stuhl zu entwickeln, der die Wirkung eines Sitzballs hat, aber besser aussieht und funktioniert.

Die Arbeitswelt wird heute immer mobiler und die Aufenthaltsdauer von einzelnen Personen an einem nur für sie individuell zugeordneten Platz tendenziell kürzer …

Urs Greutmann:
Durch die neu aufgekommenen Bürokonzepte benötigen wir weniger hoch ergonomische Funktionsdrehstühle. Sie funktionieren nicht in diesem Kontext der Steh-Sitz- und Projektarbeitsplätze. Da ist ein grosser Stuhl immer im Weg und steht am falschen Ort. Er ist auch zu komplex in den Bedienelementen.

So ist in Zusammenarbeit mit Girsberger nun der neue Stuhl „Simplex 3D“ entstanden. Welche sind hierbei die aus Ihrer Sicht wichtigsten Produkteigenschaften und wie haben Sie die Umsetzung technisch gelöst?

Urs Greutmann:
Aus der Ursprungsidee eines in vielen Haltungen besitzbaren Hockers mit Lehne wurde am Ende ein einfacher, beweglicher Stuhl mit Lehne. Technisch haben wir zusammen mit den Girsberger Ingenieuren viel ausprobiert und sind von einem Luftring als Basis, über eine Stahlfeder zu Gummipuffern als dämpfende Elemente gekommen. Letztere funktionieren langfristig, sind sinnvoll und wiederholbar – bei gleicher Qualität. Auf diese Weise haben wir die beabsichtigte Bewegungsmöglichkeit in der Sitzbewegung erzielt. Der Name „Simplex 3D“ impliziert die Eigenschaften „einfach“ und „dreidimensional“.

Simplex 3D









»Der Stuhl ist der Abdruck eines Menschen, deshalb kann man ihn täglich neu erfinden.«

Wie unterscheidet sich dieser Stuhl von den Modellen der Marktbegleiter?

Urs Greutmann:
Andere Stühle, die das Thema des einfachen dynamischen Sitzens aufgreifen, unterscheiden sich vor allem formaler Natur. Die Mechanik oder „Nicht-Mechanik“ steht oft im Vordergrund und wird vom Design her ausgeprägt – nach dem Motto: „Schau, das ist ein gesunder Stuhl“. Wir wollten einen Stuhl schaffen, der überall funktioniert und zudem dem Wunsch nach wohnlicheren Büros entspricht.

Carmen Greutmann-Bolzern:
Vor allem habe ich befunden, dass die bisherigen Modelle von Girsberger sehr männlich erscheinen. Ich wollte jetzt einen femininen Gegenpart entwickeln. In der Zeit meiner Überlegungen präsentierte Coco Chanel gerade neue Modeentwürfe: oben schwarz und unten weiss und umgekehrt. Da dachte ich, bicolor sei auch ein guter Ansatz für unseren Stuhl. Mir war ganz bewusst der weibliche Touch wichtig – Urs hat es dann umgesetzt. Eine Mittelnaht teilt Rücken und Sitz farblich in oben und unten, auch wenn die Schale ein einziges Element ist.

Urs Greutmann:
Es ist ein Objekt entstanden, das sich massiv von dem unterscheidet, was wir vom Funktionsstuhl kennen und bis auf die Höhenverstellung verzichten wir auf alle Bedienelemente. Der „Simpex 3D“ ist von allen Seiten besitzbar, in verschiedensten Haltungen. Ein Stuhl soll ja Haltungen ermöglichen und nicht verhindern. Wie wir wissen, ist Sitzen grundsätzlich eine Belastung für den Körper.

In welchem Szenario sehen Sie die Einsatzmöglichkeiten?

Carmen Greutmann-Bolzern:
Dieser Stuhl ist an Teamarbeitsplätzen einsetzbar, in Sonderzonen, an Touch-down-Arbeitsplätzen, beim Desk-Sharing oder in Coworking-Spaces – natürlich auch im Homeoffice. Eigentlich ist er überall denkbar, ausser eine Person muss wirklich einen ganzen Arbeitstag lang nur auf einem einzigen Stuhl sitzen.

Urs Greutmann:
Das Coworking-Thema und die Bürocommunities sind echte Gamechanger. Da wird sich die Bürowelt noch massiv verändern! In den Anfängen merkt man das jetzt schon: Die grossen Organisationen sind gleich den Dinosauriern vom Aussterben bedroht. In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren werden andere Strukturen entstehen. Dann werden keine Headquarters mehr gebaut für Tausende von Mitarbeitern. Alles wird zunehmend dezentralisiert, mit Netzwerken, die offen funktionieren. Unterschiedlichste Firmen werden sich in solchen Gemeinschaften einmieten. Das verändert dann die Anforderungen an die Infrastruktur und an die Möbel. Hier kommt dann unser Stuhl „Simplex 3D“ ins Spiel.

Simplex 3D







»Coworking und die Bürocommunities sind echte Gamechanger - die Bürowelt wird sich massiv ändern.«

Seit 2003 teilen Sie sich eine Professur für Produktdesign an der Akademie der Bildenden Künste in München. Haben Sie hier untereinander Schwerpunkte festgelegt?

Carmen Greutmann-Bolzern:
Wir wurden als Team berufen und machen alles zu zweit als Team. Das ist auch besser so, als wechselseitig zu unterrichten. Sonst würde es immer heissen: „Ihr Mann hat aber gesagt …“ oder „Ihre Frau hat gesagt …“.
Die Gestaltung eines Stuhls gehört immer auch zu den Aufgabenstellungen. Es ist die Königsdisziplin für einen Designer, einen guten Stuhl zu machen. Die Studenten haben dann im letzten Semester drei Monate Zeit für einen Entwurf. Thema und Material geben wir immer vor. Was den Stuhl als Gestaltungsaufgabe so schwierig und kompliziert macht ist, dass er sechs Seiten hat. Es gibt optische Täuschungen. Mit insgesamt 15 Wochen kommt da jeder Student an seine Grenzen, denn er muss auch den Prototypen selbst bauen. Masse, Statik, formale Fragen … eine ganze Menge Probleme.
Am Ende jedes Abschlusssemesters gibt es immer eine Stuhlausstellung an der Akademie, die bereits Tradition hat und begeistertes Stammpublikum anzieht.

 

 

Wir bedanken uns für das Gespräch!

Interview: Dorothea Scheidl-Nennemann
Fotos: André Bolliger